
Geboren wurde ich in der Grafschaft Stichbergen im Lande Francall. Meine
Eltern leben im Süden Stichbergens, das gemeinhin als die „Untere
Au“ bekannt ist, wo sie sich ihren Lebensunterhalt mit der Gewinnung
von Schwefel hart erarbeiten.
Meine Kindheit verlief wie die jedes anderen Kindes in der Unteren Au –
wir spielten im Dorf, hörten uns Schauergeschichten über die Torfsümpfe,
Monster, Fremde und bösen Hexern an und halfen gelegentlich im Haushalt
oder sogar in der Schwefel- bzw. Bleigewinnung. Alles, was man braucht, um
später auch genug zum Leben verdienen zu können, lernte man von
seinen Eltern. So bereitete ich mich darauf vor, eine ganz normale Stichbergenerin
zu werden.
Nun - „ganz normal“ war ich dann wohl leider doch nicht. Irgendwann
fing es an, dass mir seltsame Dinge passierten, dass ich meist genau dann,
wenn ich es brauchte, unglaubliches Glück hatte. Ich war sehr verwirrt,
als mir das klar wurde, und ich hatte stets Angst, dass andere das auch bemerken
könnten – was in Stichbergen nicht normal ist, gilt als schlecht.
So versteckte ich mich eines Tages, wieder einmal den Tränen nahe, im
Häuschen meiner Eltern – ich hatte das wenige nicht aus Holz bestehende
Geschirr, das meine Eltern besaßen, abgewaschen und fallen lassen –
wie durch ein Wunder war alles so zu Boden gefallen, dass nichts beschädigt
worden war. Das konnte einfach nicht sein ... zu meinem üblichen Glück
war auch diesmal niemand in der Nähe gewesen, der es hätte bemerken
können. Aber so konnte es nicht weitergehen ... irgendwas stimmte mit
mir nicht, irgendjemand musste mir helfen, normal zu werden! Aber wen könnte
ich fragen, ohne Angst haben zu müssen, verstoßen zu werden?
Ungewöhnliche Geschäftigkeit auf der Straße erregte meine
Aufmerksamkeit. Ich trocknete meine Tränen und ging hinaus – eine
Dame war angekommen. Das war ein wirklich seltenes Ereignis bei uns! Meine
Freundinnen und ich tuschelten und wetteten miteinander, warum sie hier war
– wegen Schwefel oder wegen Blei. Sie trug wunderschöne Kleider,
musste also entweder eine wohlhabende Kauffrau oder Alchemistin sein. Den
Rest des Tages beobachteten wir diese Frau, die von Tür zu Tür ging
und mit den Leuten sprach – ein ungewöhnliches Gebaren, das der
Beobachtung wert war.
Am Abend kam sie auch zu meinen Eltern. Sie sprach mit ihnen über den
Schwefel, den meine Eltern abbauten, und verhandelte wegen eines Preises.
Ich brachte ihnen etwas zu trinken und die Frau lächelte mich an: „Danke,
mein Kind.“. Sie legte mir eine Hand auf den Kopf und sah mich auf einmal
überrascht an – oder bildete ich mir das nur ein? Als sie gegangen
war, hatte ich ein seltsames Gefühl und einen flauen Magen. Auch sie
hielt mich vielleicht für abnormal ...
Am nächsten Morgen, als meine Eltern arbeiten waren und ich die Stube
fegte, betrat vollkommen unerwartet die Dame den Raum. „Hallo mein Kind
– wie heißt du?“ - „Gloria“, antwortete ich
verdutzt. „Meine Eltern sind leider gar nicht hier.“. Sie sah
mich ernst an: „Ich bin auch nicht wegen ihnen, sondern wegen dir gekommen.“.
Ich erblasste – sie wusste, dass mit mir etwas nicht stimmte. Meine
Augen füllten sich mit Tränen und ich erwiderte heiser: „Ihr
... wegen mir? Aber ... was könntet ihr von mir schon wollen ... ich
bin doch nur ... nur ein ... normales ... Kind ...“. „Nein, das
bist du nicht, Gloria.“. Nun konnte ich die Tränen wirklich nicht
mehr zurückhalten. „Aber ich möchte eins sein ... bitte erzählt
es niemandem!!!“. Dann stutzte ich plötzlich – woher wusste
sie das überhaupt? Ich fragte sie danach und sie setzte sich auf einen
Stuhl und begann zu erzählen. Sie sagte, sie sei hier, um Kinder wie
mich zu suchen, weil sie selbst einst in der Unteren Au lebte und wisse, dass
alles Abnormale aufs Heftigste verfolgt würde. Sie könne mich wegbringen,
damit ich lernte, damit umzugehen. Damit umzugehen ... ich fürchtete
mich davor, die Frage zu stellen, aber ich musste es wissen: „Damit
... womit denn nur?“.
Das Folgende traf mich wie ein Schlag – sie war eine Hexe! Und sie sagte,
ich wäre es auch! In Panik rannte ich aus dem Haus, die Straße
hinunter und in Richtung Wald, wo ich mich hinter den nächstbesten Baum
fallen ließ und hemmungslos weinte. Ich wollte keine der bösen
Hexen werden. Ich wollte nicht verfolgt werden. Ich wollte das alles nicht!
Die Frau fand mich nach einer Weile völlig aufgelöst hinter meinem
Baum liegend. „Hör mir zu – ich weiß, das ist für
dich erst mal sehr, sehr schrecklich. Aber – weißt du, es gibt
auch Gegenden, in denen Magier nicht als Hexen verschrieen sind, Gegenden,
in denen man sie schätzt und bewundert. Es gibt einen Ort, an dem du
ausgebildet werden könntest, eine Schule, in der du das alles lernen
kannst. Wenn du das nicht möchtest, wird dir die Magie ausgebrannt –
das bedeutet, dass du sie nie wieder benutzen kannst und ein ganz normaler
Mensch wärst. Aber überlege dir das gut!“. Ich lachte vor
Erleichterung – es gab einen Ausweg. „Bitte, nehmt mir das, macht
mich normal!!!“ Ich war überglücklich, hier in meinem Dorf,
bei meinen Eltern und Freunden bleiben zu können ...
Meine Freude wurde jäh unterbrochen, als meine Eltern plötzlich
neben uns standen. Sie sahen mich so verabscheuend an, wie ich es noch nie
an ihnen gesehen hatte. „Du kannst nicht bleiben.“, sagte meine
Mutter nur kurz. Ich fiel aus allen Wolken: „Aber ich kann doch ganz
normal werden!!! Mama, Papa – bitte!“ - „Normal? Du? Nein.
Du wirst nie wieder normal. Wer weiß schon, ob das nicht ein Trick der
... „ - mein Vater spuckte das nächste Wort beinahe aus, als hinterließe
es in seinem Mund einen ekelhaften Geschmack - „... Hexen ist! Wir packen
dir deine Sachen, dann reist du heute Nacht, wenn es niemand sieht ab.“.
Nun wurde der Blick meiner Eltern doch ein wenig weicher: „Wenn du fort
bist, geschieht dir wenigstens nicht sicher etwas ...“, sagte meine
Mutter. „Aber zurückkommen darfst du nie wieder“, seufzte
mein Vater. Das war mir sofort klar – einerseits würden mich die
anderen, sobald sie es erfuhren, sicherlich verachten, und andererseits sah
ich auch in den Augen meiner Eltern schlicht Angst vor mir – sie konnten
mit mir nicht mehr leben.
Am Boden zerstört packte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen. Mein
Leben in nur einem Augenblick vollkommen vernichtet worden. Ich wusste nicht,
was ich nun tun würde, wo mich die Dame, deren Namen ich noch nicht einmal
wusste, hinbringen würde, ob es wahr war, dass ich nicht überall
gefürchtet werden würde ...
Die ersten Tage unserer Reise sprach, aß und schlief ich kaum vor Kummer.
Nur langsam öffnete ich mich einem neuen, vollkommen unbekannten Leben,
in dem vieles so anders war, als ich es gelernt hatte. Auf der ganzen Reise
erzählte mir die Magierin von der Magie, von der Akademie, von den wenigen
Magiern, die es in Francall gab, von deren Ausbildung und Wertschätzung,
aber auch viel über Francall selbst – ich hatte ja nie viel von
der Welt außerhalb meines Dorfes gehört. Ich staunte immer mehr,
wie viel sie wusste, wo sie schon überall gewesen war und was sie konnte
– sie zündete zum Beispiel ein Lagerfeuer mit Magie an oder beleuchtete
uns im Dunkeln magisch den Weg! Wenn wir ein schönes Gasthaus fanden,
bezahlte sie sogar ein Zimmer und gutes Essen – als Magier schien man
tatsächlich für meine Verhältnisse unglaublich viel Geld zu
verdienen. Ich interessierte mich immer mehr dafür, wenn das auch das
Heimweh nicht dämpfte.
Nach einer langen Reise erreichten wir die größte Stadt, die ich
jemals gesehen hatte: Oppidium. Niemals hätte ich geglaubt, dass derartig
viele Menschen an einem Ort sein könnten! Ich kam aus dem Staunen gar
nicht mehr heraus – und das endete keineswegs, als wir die Akademie
erreichten! So viele Menschen, auch Kinder, in Roben, mit richtigen Büchern
und ... es war einfach unbeschreiblich.
Ich wurde also in die Akademie aufgenommen, lernte Lesen und Schreiben, Geschichte,
einfach alles, was man Novizen beibringt. Meine ersten Lehrlingszauber versetzten
mich trotz der vielen Zauber, die ich von älteren Schülern oder
Magistern bereits gesehen hatte, in Erstaunen und Freude – ich konnte
es tatsächlich! Meine Wissbegierde und die Freude am Lernen wuchsen täglich.
Nur eines stimmte mich stets traurig: Es gab gelegentlich Ferien, in denen
die Schüler, natürlich mit der Auflage, an Magie nicht mal zu denken,
die Erlaubnis bekamen, ihre Eltern zu besuchen, sofern diese nicht allzu weit
weg wohnten. Viele meiner Freunde waren dann fort und ich war quasi allein
in der Akademie. Ich verbrachte meine Zeit in der Bibliothek, was mir den
Ruf einer Streberin einbrachte, obwohl ich bei Weitem nicht die Beste meiner
Klasse war.
Letzten Winter war es dann endlich soweit: Ich hatte meine Magisterprüfung.
Ich war unglaublich aufgeregt. Die Prüfung verlief trotz der Nervosität
erfolgreich, besonders in Bezug auf mein Lieblingselement Wasser, was ja an und für sich nicht besonders überraschend war. Zu meinem Glück wusste ich auch schon, was ich nach der Prüfung tun würde - da ich ja keine Familie mehr habe, hätte ich nicht gewusst, wohin ich gehen sollte. Die Bibliothek suchte jedoch noch einen weiteren Mitarbeiter, um unser altes Wissen zu pflegen, Bücher zu reparieren, neu abzuschreiben, zu sortieren und neue zu verfassen. Eine wunderbare Aufgabe für mich! So widme ich mich nun diesen Aufgaben, helfe, die Luftfeuchtigkeit und Temperatur des Bibliotheksturms auf einem für die Schriften angemessenen Stand zu halten und reise manchmal ein klein wenig herum, um neues Wissen zu sammeln und zumindest Reiseberichte zu verfassen.